Schlagwortarchiv für: Mangel

„Werde die beste Version deiner selbst“: eine Aufforderung, die in den sozialen Netzwerken allgegenwärtig ist. Viele Coachs bieten auf ihren Websites, auf Facebook oder YouTube ihre Unterstützung bei der Selbstoptimierung an. Auch viele meiner Klienten äußern in den Therapiesitzungen diesen Anspruch an sich selbst. Tatsächlich kann das aber gar nicht funktionieren. Die Absicht trägt den Grund dafür bereits in sich, denn sie stellt selbst einen Widerspruch dar: Wer will hier die beste Version von wem erschaffen? Bemerkst du die ungesunde Spaltung? In diesem Artikel erfährst du, warum Selbstoptimierung die Möhre ist, hinter der der Esel herläuft, und worauf es wirklich ankommt.

„Mach was aus Dir!“

„Mach was aus Dir!“ Hat das auch zu dir schon einmal jemand gesagt? Dieser Befehl ist typisch für unsere leistungsversessene Gesellschaft mit dem Streben nach ewigem Wirtschaftswachstum. Schon unser Schul- und Ausbildungssystem ist letztlich darauf ausgelegt, uns zu Konsumenten zu machen, die sich als winziges Rädchen im kapitalistischen Weltmonopoly mitdrehen und ihr Leben Unternehmen verschreiben, die es ihnen kaum danken.

Es erscheint uns ganz normal, dass die Welt so ist und dass wir alle Karriere machen wollen. Doch die Illusion, dass das Leben umso schöner wird, je mehr wir von dem Konsumkuchen abbekommen und je mehr wir unseren Status ausbauen, zerplatzt in dem Moment, in dem der Burnout, die Depression, Zwänge oder Ängste sich melden. Was ist da nur schief gelaufen? Wir sind schon als Kinder darauf ausgerichtet worden, dass wir etwas aus uns selbst machen müssen. Die wenigsten Menschen kommen auf die Welt und werden einfach um ihrer selbst willen angenommen und geliebt. Die Eltern sind meist schon im Leistungsdenken gefangen und Teil der Bedeutungsmaschine.

Das Kind als Projekt der Eltern

Der Trend, dass Eltern ihre Kinder als ihr persönliches Projekt ansehen, verstärkt sich immer mehr. Es kommt nicht einfach ein Mensch auf die Welt, der sich in Verbindung mit den Eltern selbst erprobt und sich zu einem selbstbewussten, selbstdenkendem, empathischen und vertrauensvollen Erwachsenen entwickelt. Nein, es wird ein Wesen geboren, das es zu optimieren gilt. Mit neuen gentechnischen Verfahren wird das in Zukunft sogar schon vor der Zeugung möglich sein.

Der Mensch, der das Licht der Welt erblickt, wird, so ist mein Eindruck, den ich in vielen Sitzungen gewonnen habe, nicht als vollständiger Mensch betrachtet, der nur lernen muss, seine Fähigkeiten zu entfalten und sich in der Welt zurechtzufinden. Er wird zu einem Objekt gemacht. Alleine diese Haltung der Eltern erzeugt in dem kleinen Wesen einen riesigen Schmerz. Denn dies ist nicht möglich, ohne dass die Eltern die liebevolle und annehmende Verbindung zu ihm unterbrechen. Wichtiger als dieses subjektive Wesen und seine tatsächlichen Gefühle und Bedürfnisse sind die Ziele, die die Eltern mit ihm erreichen wollen.

Die Selbstverleugnung

Sowohl ein zu geringes, als auch ein zu vereinnahmendes Interesse der Eltern führen bei dem Kind zu dem Empfinden, dass etwas an ihm falsch sei. Es versucht, den Eltern gerecht zu werden und passt sich an die Gegebenheiten an. Dazu muss es sich selbst verleugnen. Es spaltet Teile von sich selbst ab, weil sie nicht erwünscht sind. Ein Kind, das tagträumt oder sich mit scheinbaren Banalitäten befasst, kann ja nicht gut lernen und funktionieren. Das Lebensgefühl falsch zu sein trägt es sein ganzes Leben mit sich herum.

Kein Wunder, dass sich irgendwann Depressionen, Zwänge, Ängste oder ein Burnout zeigen. Diese werden dann als Erkrankung oder Zusammenbruch bezeichnet. Das ist jedoch grundfalsch. Die Erkrankung entstand schon im Kindesalter, und der Zusammenbruch der Persönlichkeit fand ebenfalls oft bereits vor Jahrzehnten statt. Nun ist das System der Betroffenen nicht mehr in der Lage das falsche Spiel mitzuspielen. Die „Erkrankung“ ist eigentlich die Chance zur Rettung aus der jahr(zehnte)langen Selbstverleugnung. Sie zwingt dazu, sich sein eigentliches Leiden anzusehen und eine eigenständige Persönlichkeit zu bilden.

Selbstoptimierung ist nicht der Weg

Wer in solch einer Situation nun meint, sich selbst weiter optimieren zu müssen, geht genau jenen eigenen schädlichen Mustern in die Falle, die das Problem auslösten. Du siehst dich selbst als fehlerhaft an, weil du findest, dass du krank bist oder ein Problem hast. Du meinst diese Fehler reparieren zu müssen. Nochmal: Die Depressionen, der Zwang, die Ängste oder der Burnout ist nicht die Erkrankung. Die eigentlichen Ursachen sind viel älter und sind dir meistens gar nicht bewusst.

Die Motivation, eine bessere Version von sich selbst zu erschaffen, kommt  in der Regel von außen. Denn du befasst dich damit, wie andere dich sehen sollen, statt in die Kraft deiner eigenen Persönlichkeit zu kommen. Auch wenn du denkst, dass du derjenige seiest, der dies will, überprüfe, woher diese Idee wirklich kommt. Fast immer liegen unseren Überzeugungen und Werte Ideen zu Grunde, die wir in der Kindheit aus unserer Umgebung aufgenommen haben. Der Wunsch, eine bessere Version von dir selbst zu sein, ist also letztlich wieder eine solche Anpassung an andere. Er ist Teil des Wunsches angenommen und geliebt zu werden. Doch solange du auf den Zuspruch von außen angewiesen bist, bist du manipulierbar und nicht du selbst.

Die Arbeit an den Symptomen verstärkt das Problem

Der Grund für deine Anpassung liegt in einem Mangel an ungetrübter Zuneigung und Annahme, den du irgendwann als Kind empfunden hast. Du hast nicht die bedingungslose Aufmerksamkeit und Verbindung erlebt, die dir zustanden. Dieses Gefühl des Mangels und die Idee, dass mit dir etwas nicht stimmt, zwangen dich dazu, dich deiner Umgebung unterzuordnen. Du musstest Teile von dir selbst verleugnen: zum Beispiel deine Gefühle oder Bedürfnisse, denn jemand anders hat die Deutungshoheit darüber an sich gerissen, und du musstest folgen.

Genau das haben wir alle mehr oder weniger stark erfahren. Das ist fast unserer gesamten Gesellschafft immanent. Wir alle tragen die Folgen davon in uns. Wir leben eben nicht in einer idealen Welt mit idealen Menschen. Wenn Du nun deine Anpassung weiter vorantreiben willst, weil du denkst, dass dadurch deine Probleme verschwinden, bist du auf dem Holzweg. Es hat damals funktioniert, als du klein warst, und du denkst, das funktioniert weiterhin. Das ist falsch, denn du bist nicht mehr klein. Heute hast du ganz andere Möglichkeiten und Fähigkeiten. Deine Lösungen von damals, die bestimmte Verhaltensprogramme in dir hervorgerufen haben, sind nicht mehr zeitgemäß. Du musst – und kannst! – sie ändern.

Was tatsächlich zu tun ist

Bist du mit deinem Leben, dir selbst oder deinem Beruf unzufrieden? Dann ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass du früher fremdgesteuerte Entscheidungen gefällt hast. Du hast nicht aus deinen eigenen Gefühlen, Bedürfnissen und Interessen heraus gehandelt. Vielmehr hast du aus deiner Anpassung heraus versucht, die Erwartungen der anderen zu erfüllen. Das ist auch nicht falsch, wie du jetzt vielleicht denken könntest. Es war früher einmal deine Lösung dafür, deine eigenen inneren Konflikte und die mit deiner Umgebung zu handhaben. Das war geschickt und erforderlich. Doch die Lösungen eines Kindes passen nicht in das Leben eines Erwachsenen. Du stößt an Grenzen und beschränkst dich selbst.

Die Folge davon ist, dass du nun innere Zustände erfährst, unter denen du leidest: Gereiztheit, Erschöpfung, Beziehungsprobleme, Ängste, Zwänge, Depression, Burnout oder gar psychogene Erkrankungen. Es mag dir so erscheinen, dass diese Zustände nur schwer zu lösen seien. Doch das ist nicht so. Moderne Therapiemethoden bieten sehr gute Ansätze, die wirklichen Ursachen zu finden und aufzulösen. Probleme, die du hast, liegen in der Regel auf der emotionalen Ebene. Deshalb müssen sie auch auf dieser Ebene bearbeitet werden. Klassische Therapien bringen hier häufig nicht den gewünschten Erfolg. Sie versagen selbst nach längerer Dauer und vielen Sitzungen, wie ich immer wieder von Klienten höre – weil sie zu sehr auf der Verstandesebene bleiben.

Was du für dich selbst tun kannst

Der Wunsch nach Selbstoptimierung entstammt grundsätzlich einem Mangelempfinden. Du hast möglicherweise den Eindruck, dass dir etwas fehlt, du nicht gut genug bist oder andere nicht gut über dich denken. Du rennst der Möhre hinterher und erhoffst dir Anerkennung, Bestätigung oder Zuneigung von anderen. Doch wie der Esel die Möhre niemals erreicht, so wirst du auf diese Weise auch niemals das Gewünschte fühlen.

Besinne dich auf dich selbst. Mache dir klar, was dich ausmacht, was deine Fähigkeiten und Qualitäten sind, die du jetzt schon hast. Lasse es zu, deine eigene Kraft zu spüren. Spüre die Fülle, in der du bereits jetzt lebst. Frage dich: Was fehlt mir genau jetzt? Dann wirst du feststellen, dass du tatsächlich alles hast, was du brauchst.

Ändere deine Haltung: vom empfundenen Mangel zur Fülle. Lass andere an deiner Fülle teilhaben. Du wirst sehen, dass sich dein Leben und wahrscheinlich auch deine berufliche Tätigkeit ganz grundlegend ändern. Du bestimmst, wer du bist. Du bist die entscheidende Instanz deines Lebens. Alles andere fügt sich dann von selbst.

Melde dich, wenn du dazu Fragen hast oder dir dabei Unterstützung wünschst!

Auch interessant:
Eine Depression ist überwindbar – 16 Tipps zur Selbsthilfe
„Ich fühle mich falsch. – Was kann ich tun?“
Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit
So klappt es mit dem guten Lebensgefühl

Erfahre, was mit moderner Psychotherapie möglich ist!

Du bist vollkommen und alles um Dich herum auch. Warum empfinden wir das oft anders? Wie kann man bei Betrachtung der Welt überhaupt auf die Idee kommen, dass alles vollkommen ist? Nun, dazu ist es nützlich, eine erweiterte Perspektive einzunehmen. Das ist das Ziel dieses Newsletters. Am Ende findest Du eine Meditation, mit der Du Dein Bewusstsein ausdehnen und diese Perspektive ausprobieren kannst.

Was ist vollkommen?

Wenn wir uns selbst, die anderen Menschen und die Welt anschauen, wie kann man da auf die Idee kommen, dass das alles vollkommen sein soll? Wer findet sich selbst schon vollkommen? Andere Menschen nerven oft oder machen blödsinnige Sachen. Politiker benehmen sich völlig idiotisch oder regieren für die Wirtschaft, statt für die Bürger. Menschen werden grausam behandelt und die Umwelt wird zerstört. Und so weiter. Vollkommenheit? Ist doch ein Witz.

Wie sähe die Welt aus, wenn Du das Sagen hättest? Hast Du nicht viele Ideen, wie alles viel besser sein könnte? Die müssten alle einfach umgesetzt werden und die Welt wäre besser. Möglicherweise stimmt das sogar. Aber! Aber wir sind mittlerweile fast 8 Milliarde Menschen auf der Erde und alle haben tolle Ideen. Wessen Ideen sollten also umgesetzt werden? Schwer zu sagen. Seit Tausenden von Jahren kämpfen Menschen darum, zu Bestimmen und Macht zu erhalten, damit sie ihre Ideen durchsetzen können. Darum ist es bisher nicht zu Frieden oder gar zu einem wahrnehmbaren vollkommenen Zustand gekommen.

Den Mangel überwinden

Das persönliche Empfinden von Mangel, in welchem Bereich auch immer, ist der Grund von Unzufriedenheit und der Antrieb für das Streben, alles anders und besser machen zu wollen. Religiöse Missionare, Ideologen, Idealisten, besorgte Bürger, jeder, der unzufrieden ist und die Vollkommenheit nicht sehen kann, empfindet Mangel irgendeiner Art.

Überzeugungen, Bewertungen oder Ideale sind beliebig und unterliegen einer kulturellen Prägung. Wärest Du in ein anderes Umfeld geboren worden, hättest Du wahrscheinlich ganz andere Werte. Kaum jemand hat seine Überzeugungen frei gewählt. Sie entstammen der Prägung, Erfahrung und Beeinflussung. Und die ausschlaggebenden entstanden in einer Phase, in der wir noch nicht in der Lage waren zu wählen. Auch Als Heranwachsender oder Erwachsener unterliegen wir weiterhin starken Einflüssen und wir nehmen immer noch an, was uns irgendjemand plausibel macht. Weil er gute Argumente hat oder weil er überlegen ist. Und dieses gewonnene Bild vergleichen wir nun mit der Realität und empfinden dabei vieles, jedoch keine Vollkommenheit.

Gleichmacherei ist nicht die Lösung

Ich denke, ein Weltbild zu erschaffen und zu vermitteln, mit dem jeder Erdenbürger zufrieden und einverstanden sein kann, wird nicht möglich sein. Zu groß sind die Unterschiede. Übrigens sind diese Unterschiede das Potential, das uns voranbringt. Genau hier liegt ein möglicher Ansatz. Wie wäre es, zu akzeptieren, dass verschiedene Menschen verschiedene Dinge verschieden sehen? Wie wäre es die Andersartigkeit und das Andersdenken zu akzeptieren und als Chance zu sehen? Und damit anderen die Freiheit zu gewähren, die Du für Dich selbst wünschst? So, und wie bekommst Du die anderen jetzt dazu genau diese Idee anzunehmen und umzusetzen?

Du siehst das Problem! Die Lösung liegt nicht bei den anderen. Sie liegt bei Dir. Beende das Vergleichen, Bewerten und Kämpfen. Findest Du Frieden in Dir und kommt Stille in Deinen Kopf, kannst Du die Vollkommenheit sehen. Jederzeit, denn Vollkommenheit ist nicht abhängig davon, was um Dich herum geschieht. Alles ist mit allem verbunden. Nichts ist getrennt. Das Dasein ist ein großes Gesamtereignis, in dem die illusorische Trennung, die unser Ich hervorbringt, praktisch keine Bedeutung hat. Alles, was in dieser Gesamtheit erscheint und was in ihr geschieht, ist Bestandteil der Vollkommenheit, auch wenn unser kleines, begrenztes Ego das anders sieht.

Das heißt nicht, dass unsere Werte sinnlos sind und das wir uns nicht für das „Gute“ einsetzen sollen. Wenn Du jedoch den Fokus ausschließlich auf der Verschiedenheit hast, den Mangel wahrnimmst und immer alles besser weißt, hat das Frustration und Verbitterung zu Folge. Und daraus entsteht bestimmt nichts Konstruktives. Daher möchte ich Dir hier eine Meditation mitgeben, die Dir eine Perspektive auf die Ganzheit öffnen kann.

Meditation der Ganzheit

Suche Dir einen ruhigen Platz an dem Du eine Zeit lang ungestört sein kannst. Setze Dich hin und schließe Deine Augen. Entspanne Deinen Körper so gut Du kannst. Genieße diesen Zustand eine Weile. Dann führe die folgenden Schritte in Deinem Tempo aus:

  1. Denke innerlich „Ich bin“. Mache das ohne Anstrengung, Bewertung, Gedanken, Erinnerung, Überzeugung oder Verlangen.
  2. Lasse das „Ich“ immer schwächer werden und fühle nur das Sein, die Existenz.
  3. Sei diese Präsenz.
  4. Spüre die Ausdehnung des Raumes, den diese Präsenz ausfüllt.
  5. Dehne diesen Raum in alle Richtungen weiter aus und schließe alle Dinge und Wesen mit ein.
  6. Spüre, wie alles in diesem Raum enthalten ist.
  7. Gehe wieder zu Punkt 3 und wiederhole dem Prozess solange, bis Dir keine weitere Ausdehnung möglich ist.
  8. Verharre in diesem Zustand solange Du möchtest.

Hast Du die Ganzheit des Daseins wahrgenommen? Wiederholde die Meditation öfter und integriere das Empfinden der Ausdehnung und der Vollkommenheit in Dein alltägliches Leben. Das ist der wirkungsvollste Beitrag zu einer besseren Welt, den Du leisten kannst.

Warum  wir immer gewinnen wollen – und wie wir dem Ego seinen Platz zuweisen

Uns Menschen ist es in der Regel sehr wichtig, Recht zu haben. Beobachten Sie Gespräche: Wie groß ist der Anteil, in dem es den Beteiligten darum geht, Recht zu haben? Sie kennen bestimmt den einen oder anderen Besserwisser. Oder vielleicht haben Sie bei sich selbst schon beobachtet, dass Sie Aussagen anderer, die in Ihren Augen falsch oder unvollständig sind, nicht so stehen lassen können?  Solche sachlichen Dissonanzen lassen sich meist argumentativ ausräumen. Nachschlagewerke, Statistiken und das Internet bieten die Möglichkeit Fakten zu finden, die eine Diskussion über das “Richtig” und “Falsch” beenden. Schwieriger wird es bei Gefühls- oder Empfindungs-Themen.

“Ich habe Recht, du hast Unrecht!”

Ein typischer Dialog: „Ich fühle mich von Dir nicht genug beachtet.“  – „Nein, Du bist mir total wichtig!“ Dies ist einerseits ein Beispiel für die Verwechslung von Ebenen. Zum anderen reden die Beiden aneinander vorbei. Dies ist Futter für Stunden heftigster Auseinandersetzungen. Hier müsste erst einmal ein Konsens darüber gefunden werden, um was es denn im Kern eigentlich geht. Dann erst wird es möglich, den anderen zu verstehen und dessen Motiv zu erkennen. Danach ist es dann sinnvoll, das hinter dem Konflikt stehende Bedürfnis zu benennen und Wege zu finden, es zu stillen. Selbstständig oder durch Zutun von anderen.

Der Standpunkt „Ich habe Recht, du hast Unrecht!“ ist der Quell für die kleinen und größeren persönlichen Konflikte, die unter Umständen vor Gericht verhandelt werden müssen. Aber auch für die Konflikte in der Welt zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen oder Nationen, die schließlich zum Krieg führen können.

Das Wissen um die tatsächliche Bedeutung eines Standpunktes und die eigentliche Ursache der Sucht nach dem Recht-haben-wollen helfen sicherlich dabei, Auseinandersetzungen anders zu sehen und mit ihnen umzugehen.

Die Natur des Ich

Ein Mensch wird nicht mit einem Ich, das heißt mit einem Selbstverständnis geboren. Es entwickelt sich erst später durch Prägung und Erfahrung. Zu Beginn wird alles als eine paradiesische Einheit wahrgenommen, die später in ein schmerzhaftes Ich kollabiert. Das Ich schafft Trennung zur Umwelt und zu anderen Menschen. Trennung tut weh. Daher trägt jeder Mensch das mehr oder weniger subtile Wissen mit sich herum, dass ihm etwas fehlt: nämlich die Einheit, die Vollständigkeit.

Das Ich, das Ego, die Person „weiß“ um diesen immanenten ständigen Mangel und dass es seinem eigentlichen Wesen nach virtuell ist. Es ist eine eingebildete Instanz, sozusagen eine Software, die in unser Nervensystem eingebrannt ist. Der Name des Programms ist: „Ich bin.“ Dieses Ich existiert nicht. Es ist eine Funktion des Nervensystems. Daher ist es wichtig, zwischen dem Menschen, als eine Emanation unter vielen in der Welt, und der Person, einem ablaufenden Programm der Selbstbezüglichkeit, zu unterscheiden. Sinn dieses Programm ist es, den Menschen zu erhalten, indem es Bedürfnisse identifiziert und befriedigt, aber auch Handlungsabläufe, der Vereinfachung wegen, automatisiert.

Das eigentliche Problem mit dem Ego ist nicht, dass es da ist, denn es hat ja Funktionen zu erfüllen. Das eigentliche Problem entsteht aus der Identifikation mit ihm. So kommt es, dass das Ego – die Person – sich aufgrund seiner virtuellen Natur ständig seine eigene Existenz und seinen Wert beweisen muss. Daher kommt seine Neigung, Recht haben zu wollen. Weiß es etwas und kann es etwas, dann beweist es sich selbst, dass es einen Wert hat. Seine Existenz und Existenzberechtigung wird bestätigt. Und vor allem: Es ist anderen überlegen, es ist besser als sie und fühlt sich dadurch gestärkt. Aufmerksamkeit ist die Währung, um die die verschiedenen Egos ringen. Damit versuchen sie, ihren Einfluss zu vergrößern und meinen, die Aufgaben für den Menschen, den sie bewohnen, damit besser erfüllen zu können.

Das Spiel des Lebens

Das ist das Spiel des Lebens. Die Standpunkte, die das Ego vertritt sind völlig beliebig. Der eine hat Recht, weil es in der Heiligen Schrift steht, der andere, weil die Wissenschaft es bewiesen hat und der Dritte, weil er es von einem aufgestiegenen Meister gechannelt bekam. Der Vierte ist sich ganz sicher, weil es seiner eigenen Erfahrung entstammt, und so weiter. Es spielt einfach keine Rolle, woher Überzeugungen oder vermeintliches Wissen stammen. Sie sind frei wähl- und auswechselbar.

Tatsächlich kann nichts gewusst werden. Alles Wissen besteht aus Abstraktionen des Verstandes, der wiederum eine Funktion des Egos ist. Abstraktionen sind mentale Auskopplungen, die mit der eigenlichen Sache nichts zu tun haben. Gedanken über etwas sind nicht die Sache selbst, mit der sie sich beschäftigen, sondern sie sind eigenständige unabhängige Erscheinungen. Abstraktionen können hilfreich sein und den Menschen unglaubliche Möglichkeiten eröffnen. In diesem Fall hat das Ego dann seine eigentliche Aufgabe hervorragend erfüllt.

Erkennen, was tatsächlich ist

Doch diese Abstraktionen machen nicht glücklich. Wissen macht nicht glücklich. Recht haben macht nicht glücklich. Die Suche nach Glück und Erfüllung entstammt dem Schmerz des Egos, das sich von der Einheit getrennt fühlt. Recht zu haben ist sein Bemühen, sich selbst zu stärken.

Das einzige, was gewusst werden kann ist das, was unmittelbar wahrgenommen wird. Der Verstand und das Ego sind hierbei außen vor. Sie werden Sekundenbruchteile später das Erleben als ihres deklarieren, es bewerten und vielleicht darauf reagieren – und hier geschieht bereits die Trennung. Unmittelbarkeit wird in Wissen umgewandelt und in Besitz genommen. Später kann dieses Wisen als Argument gegen den anderen verwendet werden.

Das unmittelbare Sein trägt alles in sich. Hier muss nichts gewusst werden. Hier ist die grundlose Daseinsfreude, die die Suche nach Glück überflüssig macht.

Sollten Sie sich davon beeinträchtigt fühlen, Recht haben zu müssen, fragen Sie sich, was Sie davon haben. Lösen Sie dann am besten die zugrunde liegenden persönlichen Muster auf. Erkennen Sie, was das Ego tatsächlich ist und weisen Sie ihm seinen angestammten Platz zu.

Erfahre, was mit moderner Psychotherapie möglich ist!