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In meiner Bewusstseins-Notiz 3 bat ich um Fragen aus dem Bereich Bewusstsein, Persönlichkeitsentwicklung, Therapie, Beratung oder zu Lebensthemen. Folgende Situation wurde mir per Mail geschildert:

„Eine Frage, die ich mir immer wieder stelle, lautet: Wie kann ich besser bei mir bleiben, wenn ich oft und schnell zwischen den Rollen als Beraterin, Mutter, Kollegin, Freundin, Partnerin, Tochter, Schwester wechsle?“

Dies ist eine interessante und vielschichtige Frage. Im Grunde sind es sogar zwei. Die erste Frage: Was und wo ist dieses Ich in dem ich mich zentrieren kann? In der zweiten geht es um Identitäten, die wir ständig wechseln. 

Insofern liegt die Lösung auch auf zwei Ebenen: Erstens ist es hilfreich, absichtsvoll über die Art und Stärke von Identitäten zu entscheiden. Zweitens hilft ein ruhiger, klarer Standpunkt jenseits von Rollen und Alltagsgeschehen, immer wieder Kraft zu schöpfen und auf ganz natürliche Weise zu sich selbst zu finden.

Identitäten haben Vor- und Nachteile

Identitäten sind Persönlichkeitsanteile, die bestimmte Aufgaben erfüllen. In ihnen sind eine Menge an Überzeugungen, Haltungen, Verhaltensweisen und zum Teil auch Fähigkeiten gespeichert. Kommen wir in eine bestimmte Situation, wird die entsprechende Identität sofort und automatisch aktiviert. Wir rasten in eine Rolle ein und verhalten uns entsprechend. So, wie wir es früher eingeübt oder beigebracht bekommen haben. Wir haben erfahren, wie wir mit bestimmten Anforderungen am besten umgehen konnten und haben uns das gemerkt. Das ist grundsätzlich gut und praktisch. Das Ego entwickelt die Identitäten, damit wir nicht immer alles neu lernen müssen und wir mit der Situation adäquat umgehen können.

Der Nachteil ist, dass uns die Identitäten auf ihre Konditionierung festgelegt. Sie automatisieren unser Denken, Handel und Fühlen. Manchmal entsteht der Wunsch, sich in bestimmten Situationen anders, geschickter, kreativer oder souveräner zu verhalten. Denn nicht alles, was die Identitäten gespeichert haben ist immer von Vorteil. Möglicherweise möchten wir gar nicht erst in eine definierte Rolle verfallen, da sie heute, im Gegensatz zu früher, unangemessen oder unpassend ist oder uns in unseren Möglichkeiten einschränkt.

Jemand hat beispielsweise gegenüber dem Vater eine schüchterne, defensive und gehorsame Identität entwickelt. So funktionierte das Zusammenleben zwischen dem Kind und dem Vater am besten. Hat nun derjenigen als Erwachsener mit Menschen zu tun, die dieses Vaterbild erfüllen, zum Beispiel ein autoritärer Vorgesetzter, wird sofort diese kindliche Identität aktiviert. Und das kann im Berufsleben äußerst hinderlich sein. Sehr störend in zwischenmenschlichen Beziehungen kann es auch sein, wenn man im Freundeskreis bei bestimmten Themen ungefragt die Rolle der Beraterin einnimmt. Es könnte passieren, dass man immer weniger eingeladen wird.

Da wir diese Identitäten, mehr oder weniger bewusst, selbst entwickelt haben, können wir sie auch ändern oder auflösen. Aber auch nur bestimmte störende Aspekte von ihnen. Dazu gibt es verschiedene Techniken. Eine mögliche habe ich hier beschrieben. Das geht wesentlich leichter, als viele denken. Bearbeiten Sie eine Identität oder lösen Sie sie auf, kann es sein, dass Sie sich schon im nächsten Moment anders fühlen und sich anderen gegenüber anders verhalten. Es kommt auch vor, dass andere ihr Verhalten Ihnen gegenüber zu ändern scheinen.

Wie viel(e) Identität(en) brauche ich wirklich?

Eine häufig geäußerte Befürchtung lautet allerdings: “Wenn ich diese Identitäten auflöse, dann funktioniert mein Alltag nicht mehr. Ich brauche sie, um die jeweiligen Aufgaben zu erfüllen und im Leben zu ‘funktionieren’.”  Ja, es kann tatsächlich zu kleineren Irritationen führen während die Veränderungen im eigenen System integriert werden. Jedoch ist diese Phase nicht von langer Dauer und es stellt sich ein Zustand größerer Klarheit und Weite ein. Wenn es mehr und mehr gelingt, mit den oben beschriebenen Techniken absichtsvoll über die eigenen Identitäten zu bestimmen, statt sich von diesen und von den Erwartungen anderer bestimmen zu lassen, wird es einfacher, einen Standpunkt innerer Ruhe zu finden.

Was ist “Ich”?

Nun kommen wir zum ersten Teil der Frage. Hier wird es etwas schwieriger. Wo ist dieses Ich, auf das ich mich beziehen kann? Sozusagen das Auge im Sturm, an dem Stille herrscht und das mir zwischen all meinen Identitäten Zuflucht bietet? Die schlechte Nachricht: Dieses Ich gibt es nicht. Die gute: Das macht überhaupt nichts.

Das Ich, das behauptet: „Ich bin“ ist eine Sammlung aller Ihrer Identitäten. Es könnte als Über-Identität bezeichnet werden. Ihm klebt, als Etikett, Ihr Name an. Es ist genauso wandelbar, auch wenn es auch komplexer ist, wie jede andere Identität. Wer kann von sich behaupten, er sei noch derselbe, wie vor einem, fünf oder zehn Jahren? Das Ich ist einem ständigen Wandel unterworfen. Hier habe ich das Ich ausführlicher beschrieben.

Das Ich ist bestenfalls als eine Art Software zu verstehen. Das Ich, wäre so gesehen, das Betriebssystem und die Identitäten die Anwendungsprogramme. Ich kann verstehen, wenn jemandem dieser Vergleich zu technisch erscheint, doch er ist zutreffend und hilfreich. Fragen Sie sich: Wie können Sie das Betriebssystem in einem Computer finden? Genauso wenig ist das Ich als eine feste Bezugsgröße auszumachen. Wie Änderungen an unserer Software zu bewerkstelligen sind, habe ich oben bereits angeführt. Die Hardware ist natürlich unser Körper. Ein Artikel, wie er als Speicher für unsere persönlichen Muster fungiert ist in Arbeit, er wird in wenigen Wochen erscheinen.

Einen zuverlässigen Standpunkt finden

Im Ich einen zuverlässigen und dauerhaften Halt zu finden ist also nicht möglich. Trotzdem sind wir nicht der Willkür unserer Identifikationen ausgesetzt. Es gibt einen „Ort“ jenseits dem Ich, der Person, in dem Stille herrscht, auf den wir und jederzeit beziehen können und von dem aus wir den Wechsel unserer Identitäten gelassen zuschauen können: Das Sein, der klare gewahre Raum. Klingt esoterisch? Ist es nicht. Es ist der Urgrund unseres Daseins und er ist unmittelbar und einfach zu erfahren. Das mag zuerst noch abstrakter und weniger greifbar zu scheinen, als unser Konzept vom Ich. Machen Sie bitte die Übung aus diesem Artikel und überzeugen Sie sich vom Gegenteil.

Wenn Sie den Raum auch nur einen Bruchteil einer Sekunde wahrgenommen haben, wissen Sie wovon ich schreibe. Er ist subjektiv und nicht beweisbar. Er ist unmittelbar und von jedem erfahrbar. Hier ist der absolute und unerschütterliche Standpunkt, von dem aus das Flippen von einer Identität in die andere, gelassen betrachtet werden kann. Machen Sie es sich zur Gewohnheit, sich mehr und mehr mit dem klaren gewahren Raum zu identifizieren, als mit dem Ich. Es kann gut sein, dass Ihre Gedanken ruhiger werden, Sie sich präsenter fühlen und Sie gute Laune bekommen.

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Bewusstseinsimpuls 39 – Wie kann ich bei mir bleiben? – Eine Übung
Bewusstseinsimpuls 40 – Wer bist du, wenn dich niemand wahrnimmt? – Eine Meditation, um zu dir selbst zu kommen.

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Ich gehe davon aus, dass Sie den Zustand des Klaren Sehens, den klaren Raum, wie im vorhergehenden Artikel beschrieben, erlebt haben. Haben Sie auch das Experiment mit den geschlossen Augen gemacht und die Unendlichkeit Ihres Gewahrseins erfahren? Haben Sie auch einmal nachts in den Sternenhimmel geschaut und gesehen, dass Ihr Gewahrsein sogar die Sterne beinhaltet? Und darüber hinaus geht? Wie könnten Sie sich all dessen gewahr sein, wenn das Gewahrsein, der klare Raum, der Sie sind, dies nicht beinhalten würde?

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