Wie wir im letzten Artikel gesehen haben, hat die Person es nicht im Griff Befreiung zu erreichen. Die Person, es ist ihre Natur, versteht sich von ihrer Umwelt getrennt. Sie kann nicht anders. Dieser Umstand ist, wie die Person selber, eine Vorstellung, ein Gedanke, eine Idee. Mehr nicht. Wie kann denn nun diese so fest zementierte Verwicklung durchschaut werden? Wie können Sie erkennen, was Sie wirklich sind, oder sich dem wenigstens annähern?

Menschen wenden sich Religionen zu, gehen auf eine spirituelle Suche, besuchen Selbsterfahrungsseminare, nehmen jahrelang Therapiesitzungen und tun die abgedrehtesten Dinge, um sich selbst zu finden oder um herauszufinden, was das Ganze hier soll. So, wie ich es auch tat. Wir neigen dazu, Erklärungen zu suchen, damit wir die Geschehnisse um uns herum kontrollieren können und der verletzlichen Person die wir sind, Sicherheit zu geben. Erstaunliche und hochinteressante philosophische, wissenschaftliche, esoterische oder religiöse Modelle entstehen, die den Verstand  zufrieden stellen sollen. Ganze Kulturen gründen auf ihnen. Sie sind Abstraktionen, die mit dem, was wirklich ist, nichts zu tun haben.

Was wirklich ist, was wir wirklich sind, ist ganz offensichtlich. Wir wissen es und haben es immer gewusst, nur vergessen zu sehen. Wir brauchen keine gedanklichen Konstruktionen, um es wahrnehmen zu können. Diese sind eher hinderlich. Es geht ganz leicht und jederzeit. Wir brauchen nur zu sehen, was jetzt, unmittelbar ist. Es handelt sich um eine subjektive Sicht, die sich nicht beweisen lässt oder jemand anderen zu erklären ist. Wir müssen nur unsere Aufmerksamkeit umkehren.

Das scheint schlicht, doch es ist folgenschwer. Es gibt Menschen, deren Selbst- und Weltbild dadurch zusammengebrochen ist. Für manche ist es schmerzhaft zu erkennen, dass sie ein Leben lang auf der falschen Spur waren oder ihre ganzen Bemühungen nicht nötig gewesen wären. Letztendlich, wenn die Bereitschaft wächst zu sehen, stellt sich Lebensfreude, Leichtigkeit, ein stilles Erstaunen oder so etwas in der Art ein.

Meistens stellt sich das Erkennen sofort ein. Es ist nicht möglich, es Stück für Stück zu bekommen. Wenn es da ist, ist es ganz da. Und wenn es einmal gesehen wurde, gibt es keine Zweifel mehr und es ist leicht wiederzufinden. Der Verstand versucht dagegen zu argumentieren. Das kann es nicht sein. Zu einfach. Es ist eine Sinnestäuschung. Das soll ich sein? Verlassen Sie sich auf Ihre unmittelbare Wahrnehmung. Dies ist Ihre Realität. Gedanken sind lediglich eine Erscheinung darin. Da unser wahres Sein so offensichtlich ist, ist natürlich auch das Mittel, dessen wir uns bedienen sehr simpel. Also los:

Klares Sehen

Lesen Sie die Anleitung zu diesem Experiment zuerst und führen Sie sie dann durch.

Anleitung:

Am besten, Sie setzen sich hin. Zeigen Sie mit Ihrem Zeigefinger auf einen beliebigen Gegenstand vor Ihnen. Der Zeigefinger unterstützt bei diesem Experiment die Ausrichtung der Aufmerksamkeit. Später brauchen Sie ihn nicht mehr. Schauen Sie sich den Gegenstand an. Sehen Sie seine Form, Farbe, Struktur und Oberfläche.Wählen Sie nun einen anderen Gegenstand. Zeigen Sie mit Ihrem Finger darauf. Schauen Sie sich den Gegenstand an. Sehen Sie seine Form, Farbe, Struktur und Oberfläche. Nun zeigen Sie auf den Fußboden. Sehen Sie seine Form, Farbe, Struktur und Oberfläche. Nun zeigen Sie auf einen Ihrer Füße. Sehen Sie ihre Form, Farbe, Struktur und Oberfläche. Zeigen Sie auf eines Ihrer Knie. Sehen Sie seine Form, Farbe, Struktur und Oberfläche. Zeigen Sie nun auf Ihren Bauch. Sehen Sie seine Form, Farbe, Struktur und Oberfläche. Zeigen Sie auf Ihre Brust. Sehen Sie ihre Form, Farbe, Struktur und Oberfläche.

Nun zeigen Sie bitte dorthin, wo andere Ihr Gesicht sehen. Was nehmen Sie dort wahr? Gibt es hier eine Form? Eine Struktur? Eine Oberfläche? Eine Farbe? Stellen Sie sich nicht vor, was andere dort sehen. Erinnern Sie sich nicht, was Sie im Spiegel sehen. Was ist genau jetzt aus Ihrer unmittelbaren Wahrnehmung dort, wo andere Ihr Gesicht sehen? Schauen Sie. Wenden Sie Ihre Aufmerksamkeit, die üblicherweise von innen nach außen gerichtet ist, um 180° um. Was sehen Sie?

Ich sehe dort Nichts. Leere. Einen offenen, wahrnehmenden Raum. Gewahrsein. Erlauben Sie sich dies auch zu sehen. Bei jedem Menschen ist das so. Das ist es. Das sind Sie. Leerer, gewahrer Raum. Stille. Das ist Ihr wahres Wesen. Niemand da. Keiner zu Hause. Lassen Sie sich Zeit. Genießen Sie dieses neue Gewahrsein von sich selber.

Ich gehe davon aus, dass Sie Erleichterung spüren. Vielleicht eine stille Freude. Wahrscheinlich sind sogar Ihre Gedanken zum Erliegen gekommen. Sie sind einfach gewahr. Möglicherweise erscheint Ihnen Ihre Umgebung bunter, lebendiger und friedlicher. Falls Sie den Raum nicht halten können, wiederholen Sie das Experiment einfach immer wieder. Jedes Mal wir Ihnen klarer, um was es geht. Jedes Mal erweitert sich Ihr Verständnis und der Raum wird weiter.

Im Verstand entstehen viele Fragen. Sehen Sie. Mehr ist nicht nötig. Und fühlen Sie, wie sich das Sehen anfühlt.

Ein weiteres Experiment: Nehmen Sie eine Pappröhre, auf der Alufolie oder Haushaltspapiertücher aufgewickelt waren. Mit der Röhre ist es leichter, die Aufmerksamkeit umzukehren. Halten Sie sich die Röhre vor ein Auge und schließen Sie das andere. Schauen Sie. An dem einen Ende der Röhre sehen sie einen kleinen Ausschnitt Ihrer Umgebung. Was sehen Sie an Ihrem Ende? Leere. Nichts.

Oder nehmen Sie eine Papiertüte. Schneiden Sie den Boden heraus. Setzen Sie sich die Tüte auf Ihr Gesicht und bitten Sie einen Freund oder eine Freundin, sein Gesicht in das andere Ende der Tüte zu stecken. Wie viele Gesichter sehen Sie in der Tüte? Was ist an Ihrem Ende der Tüte? Gesicht zu Nichtgesicht.

Ist das nicht erstaunlich? Ist das nicht der Hammer schlechthin? Naja, Ihr aufgeklärter, konditionierter Verstand mag sich schwer tun. Doch erkennen Sie, dass Ihr Verstand und diese Gedanken lediglich spontane Erscheinungen in dem Raum sind, den sie soeben entdeckt haben.

Dieser Raum hat nichts mit dem Sehsinn zu tun, den wir als Zugang zu ihm benutzen. Seien Sie sich des Raumes gewahr, indem Sie die Aufmerksamkeit umkehren. Wenn Sie sich des Raumes gewahr sind, schließen Sie die Augen. Nun versuchen Sie herauszufinden, wo dieser Raum seine Grenzen hat. Möglicherweise haben Sie den Eindruck, die Grenzen stimmen mit Ihren Körpergrenzen, der Haut, überein. Das ist Konditionierung. Schauen Sie noch einmal hin. Genau. Der Raum ist grenzenlos. Befinden sich nicht nur Ihre Körperempfindungen, sondern auch alle Geräusche in diesem Raum? Nun öffnen Sie wieder Ihre Augen. Befindet sich nicht sogar alles, was Sie sehen, in diesem Raum? Leere gefüllt mit Allem. In Ihrem wahren Sein sind Sie all das. Ganzheit.

Ich weiß, das weicht etwas von unserer normalen Sicht der Dinge ab. Das ist zunächst etwas fremd. Wenn es Ihnen nicht gefällt vergessen Sie es wieder (falls das geht), ansonsten richten Sie einfach immer wieder Ihre Aufmerksamkeit auf den Raum. Was ist das, was Sie bisher als Ihre Person betrachtet haben?

Zweiwegesehen

Nun erweitern wir das erste Experiment ein klein wenig. Zeigen Sie mit einem Zeigefinger auf einen Gegenstand in Ihrer Umgebung. Betrachten Sie seine Form, Oberfläche, Farbe und so weiter. Nun zeigen Sie mit dem Zeigefinger der anderen Hand dahin, wo andere Ihr Gesicht sehen. Vergegenwärtigen Sie sich den leeren, gewahren Raum. Nun halten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf beides: den Gegenstand und auf den leeren, gewahren Raum. Nun nehmen Sie die Zeigefinger weg. Seinen Sie sich dessen gewahr, was Sie alles sehen und halten Sie die Aufmerksamkeit auf den leeren Raum. Verringern Sie die Anstrengung, mit der Sie das tun. Es ist mühelos. Es war schon immer so. Nur waren Sie sich nicht klar, wer sieht. Sie dachten, es sei die Person gewesen. Seien Sie sich bewusst, bewusst zu sein. Fühlt sich das nicht sehr lebendig an?

Sie können dies auch tun, während Sie diesen Text lesen. Schauen Sie auf Ihren Monitor oder den Ausdruck in Ihrer Hand. Nun richten Sie Ihre Aufmerksamkeit in die umgekehrte Richtung und seien Sie sich gleichzeitig des Raumes gewahr.

Sie können das Zweiwegesehen immer haben. Zum Beispiel, wenn Sie mit anderen Menschen zusammen sind. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf den Menschen vor Ihnen und seien Sie sich des leeren Raumes gewahr. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit gleichzeitig nach innen und außen. Wie viele Menschen sind in dem Raum? Nicht objektiv, sondern aus Ihrer ganz privaten Sicht? Falls Sie sich streiten, wer streitet sich mit wem, während Sie klar sehen?

Nun, wer oder was sind Sie? Wo sind Sie? Ist das nicht wundervoll? Das ist der ultimative, ewige, grenzenlose Standpunkt, aus dem heraus sich alle Erscheinungen entfalten. Was meinen Sie? Hat jeder Mensch seinen eigenen gewahren Raum? Natürlich nicht. Alles und jeder, der wahrnimmt, tut dies aus diesem einen gewahren Raum heraus.

Ihre Konditionierungen werden Sie immer wieder in die Person zurückziehen. Gerade in emotional geladenen Situationen. Wenn Sie sich jedoch immer wieder an den ultimativen Standpunkt, den leeren Raum erinnern und sich in ihn versetzen, wird er zu Ihrer natürlichen Daseinsform. Ihre Umgebung wird sich magisch verändern. Wie wir wissen, ist unsere Umgebung ein unmittelbarer Spiegel unserer Überzeugungen. Was ist, wenn da keine Überzeugungen, keine Gedanken, keine Bewertungen mehr sind?

Klares Sehen ist keine Befreiung, denn es ist noch jemand da, der klar sieht. Es ist aber so nah dran, wie es vom Standpunkt der Person überhaupt möglich ist. Versuchen Sie folgendes: Aktivieren Sie Ihr Zweiwegesehen. Lassen Sie nun denjenigen los, der sieht. Ok, gut, ich weiß, kann nicht klappen. Die Person kann eben gar nichts tun. Wie könnte eine Vorstellung sich selbst loslassen? Einen Versuch war es aber wert, oder? Und wer weiß, vielleicht irgendwann…

Es ist nicht nötig, ja sogar unmöglich, das Ego zu überwinden. Ihr Ego ist eine beliebige, unpersönliche Erscheinung im gewahren Raum, wie alle anderen Erscheinungen auch. Der gewahre Raum integriert alles. Sie wissen nun, wer sie wirklich sind. Das Klare Sehen ist ein wunderbarer Weg, um zu erkennen, wer wir wirklich sind und um unsere wahre Natur zu erleben. Im nächsten Artikel befassen wir uns damit, welche Folgen das Klaren Sehens für unser Selbstverständnis hat.

Ulrich Heister